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„Haß und Liebe zugleich“ – James Baldwin in Stuttgart – Archiv0711

Chester Himes (mi.) und James Baldwin (re.) bei der Veranstaltung in der Liederhalle. Stadtarchiv Stuttgart, 1069 Fotoarchiv Firma Kraufmann und Kraufmann, FN274/10900-8

Im Februar 1973 fand in Stuttgart eine Black Culture Week statt, die sich mit Themen rund um die afroamerikanische Kultur beschäftigte. Der Kongress wurde von der neu gegründeten Stuttgarter Ortsgruppe der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) organisiert. Die 1909 gegründete NAACP zählt zu den ältesten und einflussreichsten Organisationen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Black Culture Week bot in Stuttgart eine Vielzahl von Veranstaltungen. Eine besondere Bedeutung kam der am 16. Februar 1973 in der Liederhalle veranstalteten Diskussionsrunde zu, die sich dem Thema „Black Literature Today“ widmete. Eingeladen waren mit James Baldwin und Chester Himes zwei sehr prominente Vertreter der Schwarzen Literatur.

Chester Himes und James Baldwin
James Baldwin (re.) und Chester Himes (mi.) bei der Veranstaltung in der Liederhalle. Stadtarchiv Stuttgart, 1069 Fotoarchiv Firma Kraufmann und Kraufmann, FN274/10900-60

Eine weite Anreise

James Baldwin hatte eine weite Anreise nach Stuttgart hinter sich: Er kam direkt aus Hollywood, wo er gerade an einem Film mit und über Ray Charles arbeitete. Da er in Nizza seinen Anschlussflug verpasst hatte, traf er mit 24-stündiger Verspätung in Stuttgart ein. Trotzdem wollte Baldwin alle seine Termine wahrnehmen und eilte zu Interviews, einem Empfang des Officers Club in den Robinson Barracks am Burgholzhof im Norden der Stadt und schließlich zur Veranstaltung im Mozartsaal der Liederhalle, an der neben ihm auch der Autor Chester Himes teilnahm.

Zu Beginn wurde noch über das literarische Werk der beiden Autoren gesprochen. James Baldwin galt schon zu Lebzeiten, wenn auch unfreiwillig, als eine der wichtigsten Stimmen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Seine Romane, Essays und Theaterstücke behandelten Identitätsfragen und sprachen Rassismus offen an. Chester Himes war vor allem für seine Kriminalromane bekannt, doch sein literarisches Œuvre umfasste auch gesellschaftskritische Geschichten, wie die eines schwarzen Angestellten einer amerikanischen Rüstungsfabrik während des Zweiten Weltkriegs der Rassismus und Korruption ausgesetzt ist (If He Hollers Let Him Go (1945).

„Er will er selber sein, und sonst nichts“

Die Diskussion nahm jedoch rasch Fahrt auf, als Fragen des Alltagsrassismus in den USA thematisiert wurden. Der Bericht der „Stuttgarter Zeitung“, der allerdings durchsetzt ist mit rassistischen Untertönen, wies auch darauf hin, dass mehrheitlich Besucherinnen und Besucher aus den „Baracks“ an der Veranstaltung in der Liederhalle teilnahmen. James Baldwin betonte in seinen Ausführungen, dass er als Individuum wahrgenommen werden wolle. Er lehne jede Gewalt ab und wolle für sich selbst eines sein – er selbst. Dass dieser schlichte Satz keine einfache Lösung ist, ließ er in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung durchblicken. Auf die Frage wie lange der Kampf zwischen den Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe wohl noch dauern wird, lässt er die Antwort offen. In der Stuttgarter Zeitung heißt es etwas dramatisch: „Frage: ‚Jahrhunderte sind schon vergangen, ohne daß diese Wende eingetreten wäre. Wie viele Jahrhunderte werden noch vergehen?‘ James Baldwin drückte seine Zigarette aus. Wir blickten uns lächelnd an. Es war kein fröhliches Lächeln.“

Nur wenige Unterlagen im Stadtarchiv

James Baldwin im Gespräch
James Baldwin im Gespräch vor oder nach der Veranstaltung in der Liederhalle.Stadtarchiv Stuttgart, 1069 Fotoarchiv Firma Kraufmann und Kraufmann, FN274/10899-26

Über den Besuch von James Baldwin in Stuttgart gibt es in den Beständen des Stadtarchivs nur wenig Unterlagen. Der erste Hinweis fand sich in der Chronik der Stadt: Anhand des Tagesdatums war es relativ einfach, in den mikroverfilmten Zeitungen im Lesesaal Artikel der Tagespresse zu finden. Im umfangreichen Nachlass des Pressefotografen Uli Kraufmann, der sich im Stadtarchiv befindet, finden sich eindrucksvolle Fotos von diesem Abend. Sie zeigen Baldwin und Himes während der Veranstaltung in der Liederhalle, dokumentieren die Teilnehmer der Diskussion aber auch im Gespräch davor und danach. Vor allem die Fotos von James Baldwin zeigen seinen charismatischen Charakter. Baldwin war es gewohnt, im Mittelpunkt der Medien zu stehen und scheint diese Rolle perfekt beherrscht zu haben. Nicht zuletzt deswegen kam die Stuttgarter Zeitung wohl zu folgendem Schluss: „Baldwin auf der Bühne oder auf der Kanzel ist schon großes Theater. Der redende Baldwin ist noch immer das, was er in seiner Jugend war, ein ekstatischer Prediger. Heute ist er Ekstatiker und Zyniker, Philosoph und Clown zugleich“ (StZ, 17.2.1973, S. 117)

Leider finden sich in unseren Beständen keine umfangreicheren Unterlagen zur Gründung der Stuttgarter Ortsgruppe der NAACP. Einzig eine Einladung zu ihrem einjährigen Bestehen ist in einer Akte der Hauptaktei überliefert (Bestand 14/1 l. Nr. 1678). Mit diesen wenigen Quellen lässt sich zwar kein ganzes Bild des Besuches von James Baldwin und Chester Himes nachzeichnen, aber wir gewinnen zumindest einen Eindruck des Abends. Gibt es noch Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen, die damals in der Liederhalle dabei waren? Hinweise nehmen wir gerne entgegen.

Flyer NAACP
Stadtarchiv Stuttgart, 14/1 Hauptaktei, l. Nr. 1678

Quellen:

– Ed Reavis: Viewpoint: James Baldwin. URL: https://www.stripes.com/news/viewpoint-james-baldwin-1.17013 (Zuletzt aufgerufen: 16.01.2023)

– Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten vom 17.01.1973


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