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“Wir haben doch schon eine Behindertentoilette!” – Menschen mit Behinderung als Nutzende von Archiven – Archivwelt

Von Anna Krabbe

Im deutschen Archivwesen werden – im Gegensatz zum englischsprachigen Raum sowie Museen und Bibliotheken – Menschen mit Behinderung selten als Nutzende wahrgenommen. In der Praxis folgt die Argumentation zu oft Tendenzen wie “Es gibt doch kaum Menschen mit einer Behinderung!” oder “Man kann nicht auf jede Randgruppe eingehen.” Es gibt wenig Literatur zu diesem Thema und erst Ende 2022 hat sich der Arbeitskreis Barrierefreiheit im VdA AK Offene Archive gegründet, um dieses Defizit anzugehen. Dieses Essay untersucht, inwiefern Archive hier den Anschluss an eine wichtige gesellschaftliche Entwicklung verpassen. Sind Menschen mit Behinderung tatsächlich eine Randgruppe? Warum ist es nötig, sie gezielt mit einzubeziehen und wie lässt sich dies machen? Und nicht zuletzt: Reicht es angesichts stetig steigender Sparzwänge nicht aus, wenn ein „barrierefreies“ Archiv einen Aufzug und ein Behindertentoilette hat? Die Antwort auf diese Frage ist ein eindeutiges Nein!

Bild: In bunten Farben eine Gruppe von Menschen aller Altersstufen und Körperformen, sitzend, stehend und im Rollstuhl.
Vorlage: pixabay

Menschen mit Behinderung sind keine Randgruppe

Statistische Daten, wie viele Nutzende tatsächlich eine Behinderung aufweisen, fehlen aus Gründen des Datenschutzes. Es sind aber deutlich mehr als auf den ersten Blick ersichtlich, denn nicht jede Behinderung ist offen erkennbar. Es gibt nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern auch solche mit Seh- und Hörbeeinträchtigungen, mit chronischen Herz- oder Darmerkrankungen, mit Downsyndrom etc. Mit dem Slogan „We the 15!“ machten die Paralympischen Spiele 2020 deutlich, dass 15% der Weltbevölkerung eine körperliche oder geistige Behinderung haben. Dazu kommt, dass ältere Menschen häufig körperliche und geistige Beeinträchtigungen entwickeln. In NRW betrifft dies 27,2% der über 65-Jährigen, wie Gilhaus und Worm 2017 darlegen konnten. Menschen mit Behinderung finden sich damit auch unter den „klassischen“ Archivnutzenden: Studierende, Wissenschaftler:innen, Schulklassen und natürlich die vielen oft älteren Lokal- und Familienforscher:innen.

Auch behinderte Menschen haben ein Interesse an der Vergangenheit, dem sie aber nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten nachgehen können, wenn Archive nicht barrierefrei sind. Sie vermeiden den Archivbesuch und werden daher von den Archivar:innen nicht als Nutzende wahrgenommen. Ein Teufelskreis, der nur durch das barrierefreie Archiv zu durchbrechen ist.

Bild: Fünf Handabdrücke in rot, orange, lila, blau und grün, die in der Form einer Sonne angeordnet sind und Symbole für mögliche Formen von Behinderungen beinhalten: durchgestrichenes Auge, Gleichzeichen in einem Kreis, menschlicher Kopf mit einem x, Rollstuhlfahrer:in, durchgestrichenes Ohr.
Vorlage: pixabay

Inklusion als archivimmanente und gesetzliche Aufgabe

Bereits aus dem Auftrag der Archive und dem Selbstverständnis der Archivar:innen ergibt sich die Notwendigkeit zu einem stärkeren Eingehen auf Menschen mit Behinderung. Archive überliefern letztlich für die Nutzung, ermöglichen damit die Bildung einer historischen Identität, schaffen Transparenz und stärken Demokratie. Ein Archiv mit diesem Auftrag kann nicht einen Teil der Nutzenden dabei durch Barrieren behindern. Zudem haben sich in Artikel 6 des Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare auch die deutschen Archive verpflichtet, sich für die „weitestmögliche Benutzung von Archivalien einzusetzen“. Es ist daher im Eigeninteresse der Archive, allen Nutzenden einen niederschwelligen und serviceorientierten Zugang zu Archivgut zu ermöglichen. Dazu müssen bestehende Barrieren abgebaut und gezielt auch Öffentlichkeitsarbeit für Menschen mit Behinderung gemacht werden.

Bild: Im Hintergrund eine graue Waage, davor zwei große grüne Paragraphenzeichen und zwei sich zugewandte Rollstuhlfahrer:innen in blau.
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Nicht zuletzt handelt es sich bei der Öffnung von Archiven auch für Menschen mit Behinderung um eine gesetzliche Pflicht, denn laut Archivgesetzen ist der Zugang zum Archiv ein Jedermannrecht. Das schließt auch geistig und/oder körperlich behinderte Menschen ein. Staatliche Archive als öffentliche Einrichtungen sind verpflichtet, die Grundrechte ihrer Nutzenden zu wahren. Mit der Inklusion von Menschen mit Behinderung setzen sie Art. 3 des Grundgesetzes um, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Zudem müssen Archive aufgrund des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) ihre Internetseiten, Anträge und Gebäude barrierefrei gestalten. 2009 hat sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, die Inklusion voranzutreiben. Für Archive zentral ist dabei die Festlegung, dass Menschen mit einer Behinderung das Recht haben, gleichberechtigt am kulturellen Leben (Art. 30 Abs. 1) teilzunehmen und sich Informationen und Gedankengut zu beschaffen (Art. 21). Inklusion ist damit ein Menschenrecht. Archive sollten also nicht nur, sondern müssen, für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.

Das barrierefreie Archiv

Grundsätzlich stehen Archive natürlich bereits jetzt auch allen Menschen mit einer Behinderung offen. Niemand wird deswegen abgelehnt. Barrierefreiheit ist aber auch eine Frage der Qualität des Zugangs. Barrierefreiheit bedeutet nach § 4 BGG die Zugänglichkeit „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde Hilfe“. Und das ist in den allermeisten Archiven bisher nicht der Fall. Für Nutzende mit einer Behinderung bestehen oft große Schwellenängste und Schwierigkeiten. Die Notwendigkeit einer Voranmeldung für Menschen mit einer Sehbehinderung bzw. mit eingeschränkter Mobilität oder das Betreten des Archivs über den Lieferanteneingang und Lastenaufzug für Geheingeschränkte schreckt viele ab. Ein Aufzug, eine Rampe am Hintereingang oder eine Behindertentoilette für Rollstuhlfahrende sorgen für ein „barrierearmes“ Archiv, aber kein „barrierefreies“ nach BGG § 4. Sie tragen weder dem Konzept der Inklusion als gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen noch der Vielfalt möglicher Behinderungen Rechnung.

Barrierefrei bedeutet, Menschen mit Behinderung den gleichen Zugang zu gewähren wie allen anderen Nutzenden. Dazu muss das Archiv alle Schritte einer möglichen Nutzung auf Barrierefreiheit ausrichten: von der Erstinformation am heimischen PC, gezielter Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, dem Archivgebäude und insbesondere dem Lesesaal bis hin zur Beratung durch Archivar:innen.

Bild: Auf Holzpfeiler ein Schild „Barrierefreier Zugang“ mit einem Pfeil und einem Menschen im Rollstuhl
Vorlage: pixabay

Schritt 1: Der barrierefreie Internetauftritt

Der erste Zugang zum Archiv erfolgt heute mehrheitlich über die Website, die digitale Visitenkarte des Archivs, Rechercheoption und digitaler Lesesaal zugleich ist. Auch Menschen mit Behinderung führen hier die erste Recherche durch und planen ihren Archivbesuch. Für eine barrierefreie Website ist es zentral, Layout und Inhalt strikt zu trennen. Das Layout muss kontrastreich sein, um auch Menschen mit einer Sehbehinderung einen guten Überblick zu ermöglichen. Eine intuitive Bedienoberfläche mit einfacher Navigation und Rechercheoptionen hilft nicht nur Menschen mit einer geistigen Behinderung, sondern auch Erstnutzenden und Schüler:innen, die sich mit dem Archiv noch nicht auskennen. Komplexe historische Inhalte in leichter Sprache auszudrücken ist nicht einfach, bietet jedoch den Vorteil, dass Archivthemen auch für weniger Gebildete verständlich werden. Das öffnet das Archiv nicht nur für die wissenschaftliche Elite, sondern für die ganze Bevölkerung. Die Inhalte müssen zudem für assistive Technologien wie Screen- oder Webreader für Sehbehinderte interpretierbar sein. Außerdem muss auf Textalternativen zu Grafiken, Fotos und Videos bzw. bei letzteren auf eine:n Gebärdendolmetscher:in geachtet werden.

Einen solchen barrierefreien Webauftritt weisen bisher aber nur wenige Archive auf, obwohl er für staatliche Archive seit 2020 Pflicht ist. Auch für andere Archive bietet er Vorteile wie etwa ein positives Echo in der Öffentlichkeit oder gute Bewertungen durch Nutzende. Ein Grund für die fehlende Umsetzung ist der hohe Zeit-, Personal-, Organisations- und Finanzaufwand, den viele Archive fürchten und/oder nicht leisten können.

Um einen zumindest barrierearmen Webauftritt zu gestalten, gibt es aber auch einfache und kostengünstige Lösungen. Hinweise auf der Homepage zu barrierefreien Angeboten oder Behindertenparkplätzen sind schnell erstellt, durch Kooperationen mit Interessenverbänden von Menschen mit Behinderung kann die Homepage kostengünstig auf Barrierefreiheit überprüft und in kleinen Schritten angepasst werden. Auch beim aktuellen Thema des Aufbaus eines digitalen Lesesaals können die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen direkt integriert werden. Maschinenlesbares Archivgut ist vor der Online-Stellung schnell mit OCR-Erkennung behandelt und bietet nicht nur Sehbehinderten einen Zugang vom heimischen PC, sondern auch allen Nutzenden komfortable Rechercheoptionen. Hilfestellung bei der Überarbeitung bieten die Regelungen und Standards in der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BITV 2.0) und den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.0). Ein barrierefreies digitales Angebot dient letztlich allen Nutzenden und kann bauliche Barrieren im Archivgebäude kompensieren, weil das Archiv möglicherweise gar nicht besucht werden muss.

Schritt 2: Barrierefreie Öffentlichkeitsarbeit

Zugleich ist ein entsprechender Webauftritt auch Basis einer barrierefreien Öffentlichkeitsarbeit. Die Notwendigkeit dazu hat sich in Deutschland noch nicht durchgesetzt, aber die Archives and Records Association UK & Ireland bietet hilfreiche Hinweise für Archive zu Aufbau, Gestaltung und Nutzung leichter Sprache bei Social-Media-Posts und in Videos. Durch die selbstverständliche Integration von beispielsweise Gebärdensprache oder Untertiteln in Imagefilmen für das Archiv wird ihre Reichweite deutlich erhöht und Menschen mit Behinderung werden auf die Möglichkeiten eines Archivs aufmerksam gemacht.

Im Gegensatz zur häufig zu hörenden Annahme, dass zu einer solchen barrierefreien Öffentlichkeitsarbeit ein deutlich erhöhter Arbeitsaufwand gehört, lassen sich vielfach bestehende Konzepte der historischen Bildungsarbeit mit kleinen Änderungen auch für Menschen mit Behinderungen anwenden.

Führungen können abgewandelt werden für die Bedürfnisse bestimmter Behindertengruppen, etwa für Menschen mit einer Höreinschränkung mit FM-Anlagen oder für Sehbehinderte, bei denen die Haptik von Archivalien wichtig ist. Ausstellungstexte in leichter Sprache ermöglichen sowohl Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen als auch Kindern den Besuch. Auch archivpädagogische Angebote lassen sich für Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung anpassen. Bildungspartnerschaften mit Förderschulen sind dazu ein gutes Mittel, denn auch deren Lehrplan sieht Geschichtsunterricht vor. So führt zum Beispiel das Landeskirchliche Archiv im Zentrum Bethel eine von Christina Ruppel entwickelte Unterrichtsreihe zur Biografiearbeit mit einer Förderschule durch. Zudem finden sich aufgrund der schulischen Inklusion auch immer wieder Kinder mit Behinderung in Regelklassen. Insgesamt können durch die Integration von Menschen mit Behinderung als Zielgruppe für archivische Öffentlichkeitsarbeit deren Schwellenängste abgebaut und sie zum Besuch des Archivs motiviert werden.

Schritt 3: Das barrierefreie Archivgebäude

Sind die Menschen erst einmal auf das Archiv aufmerksam geworden und wollen dort forschen, muss ihnen auch die passende Infrastruktur zur Verfügung stehen. Auch bei den „Klassikern“ der baulichen Maßnahmen ist dabei auf Vieles zu achten: Um Menschen mit Behinderung die gesetzlich geforderte gleichberechtigte und selbständige Teilhabe am kulturellen Leben zu ermöglichen, sollten die für die Öffentlichkeit gedachten Archivräume im Erdgeschoss in unmittelbarer Nähe zum Eingang liegen und durch breite Gänge erreichbar sein. Das ermöglicht Menschen mit eingeschränkter Mobilität sowie auch Älteren, Schwangeren und temporär Erkrankten, für die Treppensteigen eine große Anstrengung bedeutet, einen leichten Zugang.

Bild: Auf Rauten angeordnete Symbole: schwangere Frau, Ohr, Mensch im Rollstuhl, Mensch mit gegipstem Arm in Schlinge, Mensch mit Hund, Mensch mit Blindenstock, Frau mit Kind.
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In Aufzügen müssen die Befehlsgeber und Anzeigen auf rollstuhlgerechter Höhe angebracht werden sowie akustisch und optisch funktionieren, damit Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung sie ohne Hilfe nutzen können. In unmittelbarerer Nähe zum Lesesaal und auf gleicher Ebene im Gebäude sollten sich auch die Behindertentoiletten befinden, damit sie für Menschen mit Darmerkrankungen und Gehbehinderte schnell erreichbar sind.

Maßnahmen wie diese sind aber für viele Archive nicht umsetzbar, denn sie befinden sich in historischen Gebäuden, die den Zugang nur durch Treppen oder schmale Gänge ermöglichen. Wenn ein Umzug oder ein Neubau ansteht, sollten Archivar:innen aber Barrierefreiheit unbedingt in die strategische Planung miteinbeziehen und die gesetzlichen Vorschriften und DIN-Vorgaben dazu beachten. Barrierefreiheit umfasst aber mehr als diese baulichen Maßnahmen und ist auch mit kleinem Budget möglich.

Barrierefreiheit mit kleinem Budget

Kurzfristig können einfache und finanzierbare individuelle Lösungen gefunden werden, die das Archiv zwar nicht barrierefrei, aber zumindest barrierearm machen und den behinderten Menschen das Gefühl geben, mit ihren Bedürfnissen ernst genommen zu werden: Ein Arbeitsplatz für Menschen mit Mobilitätseinschränkung im Erdgeschoss oder Aufzugnähe und der Umbau eines Aufzuges mit behindertengerechten Bedienfeldern im öffentlichen Bereich sind oft verhältnismäßig leicht möglich. Der Hintereingang kann ansprechender gestaltet werden, um Mobilitätseingeschränkten nicht das Gefühl von Bittstellern, sondern „normalen“ Nutzenden zu geben. Auch die kontrastreiche Kennzeichnung von Barrieren und das Anbringen von Orientierungshilfen und gut erkennbaren Hinweisschildern für Menschen mit einer Seheinschränkung beansprucht wenig Mittel und ermöglicht allen Nutzenden eine schnelle Orientierung auch beim Erstbesuch oder im Notfall. Von kleinen Maßnahmen profitieren letztlich alle Nutzenden und sie entlasten das Archivpersonal, denn dieses muss nicht mehr bei der Erreichung des Lesesaals assistieren und dazu von anderen Aufgaben abgezogen werden. Zudem müssen Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung im Brandfall nicht mit einem anzuschaffenden Evakuierungsstuhl in Sicherheit gebracht werden, sondern können das Gebäude selbständig verlassen.

Insbesondere der Lesesaal kann durch einfache Mittel besser auf Menschen mit einer Behinderung ausgerichtet werden. Block und Bleistift für die Kommunikation mit Menschen mit einer Hörbehinderung verursachen keine großen Kosten, Wendekreise für Menschen im Rollstuhl bei den Arbeitsplätzen sowie ein Arbeitsplatz mit starker Lupe für Sehbehinderte sind nicht schwer einzurichten. Dass Versehen aller Arbeitsplätze mit Steckdosen ist ein Vorteil für Nutzende mit Laptop, aber auch für Sehbehinderte mit eigenen elektronischen Lupen. Eine zweistufige oder niedrige Theke ermöglicht auch Menschen im Rollstuhl einen Kontakt mit der Lesesaalaufsicht auf Augenhöhe. Auch der Bibliotheksbereich kann mit einfachen Mitteln barrierearm oder sogar barrierefrei gestaltet werden: Standardfachbücher sollten zum Beispiel auf einer mit Rollstuhl erreichbaren Höhe untergebracht werden. Ein Gruppenarbeitsraum neben dem Lesesaal kann Menschen mit einer Sehbehinderung oder geistigen Einschränkung, die mit Assistenz kommen, eine gute Zusammenarbeit ermöglichen. Zugleich verhindert er, dass sich andere Nutzende durch deren Unterhaltungen gestört fühlen.

Schritt 4: Der Kontakt zu den Archivar:innen

Technik und bauliche Einarbeitung behindertengerechter Standards ermöglichen einen relativ selbständigen Archivbesuch, Menschen mit Behinderung stehen aber trotzdem in vielfältigem Kontakt mit den Mitarbeitenden des Archivs: Über Telefon oder Mail bei Anfragen bzw. zur Vorbereitung eines Archivbesuchs, beim Ausfüllen des Benutzungsantrags über die Beratung bis hin zur konkreten Assistenz wie dem Vorlesen von Archivgut bei stark sehbehinderten Menschen. Um dies vorurteilsfrei, respektvoll und serviceorientiert durchführen zu können, müssen die Mitarbeitenden entsprechend geschult sein. Schulungen für Archivpersonal sind zwar noch selten, aber die „Guidelines for Accessible Archives for People with Disabilities“ der Society of American Archivists bieten einen kostenlosen Leitfaden zum Einstieg in dieses Thema für Mitarbeitende auch in deutschen Archiven. Alle Menschen – und das bedeutet auch Menschen mit einer Behinderung – sollen sich im Archiv willkommen fühlen.

Bild: Gelbes Ortsschild, darauf in schwarz das Wort „Welcome“ und darunter eine Gruppe von Menschen aller Altersstufen und Körperformen, sitzend, stehend und im Rollstuhl.
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Serviceorientierung und Eingehen auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung muss also nicht aufwendig und teuer sein. Es bedeutet auch nicht, dass beispielsweise jede:r Archivar:in Gebärdensprache lernen muss, sondern vielmehr ein wertschätzendes Eingehen auf die Nutzenden durch zum Beispiel das Angebot einer Beratung über schriftliche Kommunikationswege oder die Ermöglichung von Lippenlesen durch eine deutliche Aussprache. Wenn gute Kontakte zu Interessenverbänden von Menschen mit Behinderung bestehen, können auch ehrenamtliche Dolmetscher:innen darüber organisiert werden. Auch eine mobile Funkkommunikationsanlage für Menschen mit einer Hörbehinderung ist bereits für kleines Geld erhältlich und kann die Beratungsgespräche sehr erleichtern.

Diese Betreuung bindet zwar Personal, das von anderen Tätigkeiten abgezogen werden muss, der Aufwand ist aber geringer als oft befürchtet und lässt sich bei einer Voranmeldung gut planen. Das Archiv sollte auf seiner Homepage bereits darauf hinweisen, damit beim Besuch dann alles problemlos funktioniert. Wenn Barrierefreiheit bereits im Webauftritt und Archivgebäude strategisch mitgeplant wurde, ist der Aufwand zur Betreuung von Menschen mit Behinderung durch Archivar:innen nur gering und auch für kleine Archive zu leisten.

Fazit

Das deutsche Archivwesen läuft Gefahr, gesellschaftliche Entwicklungen zu verpassen, die in Museen und in englischsprachigen Archiven längst der Normalfall sind. Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung sind keineswegs eine marginale Randgruppe, sondern ein wesentlicher Teil der Bevölkerung. Dieser Gruppe eine selbständige und gleichberechtigte Nutzung der Archive zu ermöglichen ergibt sich sowohl aus der gesetzlichen Verpflichtung als auch dem Selbstverständnis der Archive als für alle offene Einrichtungen und Grundpfeiler der Demokratie. Die Basis dazu ist die Schaffung eines barrierefreien Archivs, wobei Barrierefreiheit mehr bedeutet als ein Aufzug und eine Behindertentoilette!

Durch Öffentlichkeitsarbeit und historische Bildungsprogramme müssen Menschen mit Behinderung auf die Möglichkeiten des Archivs aufmerksam gemacht und ihre Schwellenängste abgebaut werden. Ein für alle Menschen offenes Archiv zeichnet sich durch einen barrierefreien Internetauftritt, ein barrierefreies oder zumindest möglichst barrierearmes Gebäude inklusive Lesesaal und entsprechend geschulte Mitarbeitende aus. Ein solches Archiv ist in Deutschland aber bisher nur selten ernsthaft thematisiert oder gar verwirklicht worden. Langfristig müssen Inklusion und Barrierefreiheit daher Teil der strategischen Planung jedes Archivs werden, aber auch kurzfristig sind mit kleinem Budget Veränderungen durchführbar, die das Archiv für alle Menschen zu einem offenen Ort werden lassen. Denn: Von einem barrierefreien Archiv profitieren letztlich alle Nutzenden und auch das Archiv selbst.

Hinweis: Der Beitrag beruht auf einem Essay, das im Fach „Öffentlichkeitsarbeit“ (Leitung  Florian Lehrmann) im Archivreferendariat entstanden ist.

 

Literatur

Archives and Records Association: Digital Accessibility Guidelines https://static1.squarespace.com/static/60773266d31a1f2f300e02ef/t/612d21dc49f88f534024b990/1630347740625/ARA+Digital+Accessibility+Guidelines.pdf (Abruf am 24.10.2022).

Gilhaus, Ulrike / Worm, Peter: Das barrierefreie Archiv – Chancen, Möglichkeiten, Grenzen, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 86 (2017), S. 2–12.

Society of American Archivists: Guideliness for Accessible Archives for People with Disabilities. https://www2.archivists.org/sites/all/files/SAA%20Guidelines%20for%20Accessible%20Archives%20for%20People%20with%20Disabilities_2019_0.pdf (Abruf am 26.10.2022).

Heck, Lukas: Inklusion in Archiven – Möglichkeiten und Grenzen in der Archivbenutzung, Potsdam 2020 (Bachelorarbeit am Fachbereich Informationswissenschaften im Studiengang Archiv der FH Potsdam 2020). https://opus4.kobv.de/opus4-fhpotsdam/frontdoor/index/index/searchtype/simple/ query/%2A%3A%2A/browsing/true/doctypefq/bachelorthesis/start/3/rows/10/yearfq/2020/sortfield/author/sortorder/asc/docId/2473 (Abruf am 25.10.2022).

Kahlisch, Thomas: Barrierefreies Arbeiten im Archiv. Empfehlungen des Deutschen Zentrums für barrierefreies Lesen, in: ARCHIVAR 3/2022, S. 258–260.

Rocktäschel, Lucia Clara: Barrierefrei gendern: So geht’s (2020, zuletzt geändert am 13. Januar 2022). https://www.lucia-clara-rocktaeschel.de/barrierefrei-gendern/ (Abruf am 17.01.2022).

Ruppel, Christina: Schüler mit geistiger Behinderung im Archiv – Ein Konzept, in: Archivmitteilungen 20 (2010/11), S. 44–58.

Wohlfarth, Nora: Barrierefreiheit im Archiv. Der Zugang zu Archivgut am Beispiel gehörloser Nutzerïnnen, Potsdam 2021 (Masterarbeit im Weiterbildungs-Master Archivwissenschaft an der FH Potsdam 2022). https://opus4.kobv.de/opus4-fhpotsdam/frontdoor/index/index/searchtype/simple/query/%2A%3A%2A/browsing/true/doctypefq/masterthesis/rows/10/institutefq/FB5+Informationswissenschaften/start/0/yearfq/2022/docId/2786 (Abruf am 08.10.2022).

Quellen

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Sozialgesetzbuch, 9. Buch: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/ (Abruf am 24.10.2022).

UN-Behindertenrechtskonvention: https://www.behindertenrechtskonvention.info/ (Abruf am 24.10.2022).

Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (Barrierefreie Informationstechnik Verordnung BITV 2.0): https://www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/BJNR184300011.html (Abruf am 27.10.2022).

Web Content Accessibility Guidelines: https://www.w3.org/WAI/standards-guidelines/wcag/ (Abruf am 28.10.2022).

Cite this article as: Anna Krabbe, ““Wir haben doch schon eine Behindertentoilette!” – Menschen mit Behinderung als Nutzende von Archiven”, Archivwelt, 08/02/2023, https://archivwelt.hypotheses.org/3294.

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